Diagnostik aus hypnosystemischer Sicht
Diagnosen sagen nichts über unsere Klient*innen aus
Als Hypnosystemiker erlebe ich Diagnosen meist als trivialisierend und als eine die Komplexität reduzierende Vernichtung von Informationen. Zudem werden Diagnosen überwiegend völlig blind für den Kontext gestellt, in dem ein Symptom auftritt.
Ziel dienlich sind Diagnosen aus hypnosystemischer Sicht dann, wenn Patient*innen sie wollen, weil sie dadurch Entlastung erfahren (was ich dann wieder utilisieren kann), oder eben für die Krankenkassen und Sozialversicherungsträger.
Der Begründer der Hypnosystemik Gunther Schmidt erwähnt etwas augenzwinkernd, dass sich seine Klient*innen eine der häufigsten Diagnosen (etwa "mittelgradige depressive Episode") selbst auswählen dürfen (sie können aber auch ausgewürfelt werden), wobei wir die Diagnosen dann zusammen mit unseren Klient*innen auf möglicherweise negative Auswirkungen überprüfen sollten.

Diagnosen pathologisieren und können erlebte Inkompetenz bahnen
Diagnosen vernichten in der Regel wertvolle Informationen und negieren, dass Symptome in bestimmten Kontexten hilfreiche unbewusste Lösungen mit einem Preis sind, aber auch dass die Betroffenen immer auch bereits über "Muster des Gelingens"/ "Hinweise auf gesunde, zieldienliche Kompetenzen" (Gunther Schmidt) verfügen.
Zudem erleben die Diagnostizierten sich selbst oft dann eben nicht mehr als kompetente Menschen, die mit anderen völlig gleichwertig und gleichrangig sind. Sie erleben sich als weniger gleichrangig als ihre Therapeut*innen.
Somit kommt es schnell zu entwürdigenden Interaktionen. Diese Interaktionen bilden hinderliche Kontextbedingungen, welche die Betroffenen weiter schwächen können.
Diese Schwächung wird dann sogar noch als eine Rechtfertigung missbraucht, um noch schlimmere Diagnosen zu vergeben, was zu noch mehr Erleben von Inkompetenz und Entwürdigung führt. Diagnosen sind dann ein Teil des Problems.
Diagnosen fokussieren die Aufmerksamkeit auf Pathologien, auf Defizite und auf Störungen, nicht auf Ressourcen. Sie beachten nicht den Kontext, in dem ein Symptom auftritt. Sie suggerieren Therapeut*innen und Patient*innen Krankheiten und Inkompetenzen. Damit laden Diagnosen zu negativen Problemtrancen ein und können Patient*innen (und uns Therapeut*innen ebenso) schwächen.
Aus einer hypnosystemischen Haltung wäre aber genau das Gegenteil notwendig: Wir sollten stets Ressourcen fördern und Kompetenzen aktivieren. Da die Kassen diese am Defizit orientierten Diagnosen wollen, geraten wir als Psychotherapeut*innen immer wieder in Zwickmühlen.
Diese Zwickmühlen und Double-Binds lassen sich aber in guter hypnotherapeutischer Tradition utilisieren, da in praktisch allen Symptomen Kompetenzen stecken. Symptome sind Botschafterinnen für anerkennenswerte Bedürfnisse und damit Lösungsversuche, die wir in Therapie, Beratung und Coaching zieldienlich nutzen können.
Zwickmühlen können wir als Therapeut*innen immer fruchtbar für Metakommunikation machen, welche bei unseren Klient*innen und Coachees Kompetenzen der Würde, Autonomie, Selbstwirksamkeit bzw. Eigenkompetenz reaktiviert. Damit lassen sich Symptome übersetzen in wertvolle Kompetenzen des Feedbacks für wichtige Bedürfnisse. Zugleich können wir unseren Klient*innen und Patient*innen helfen, das Wertvolle in ihren Symptomen zu bergen, um daraus gesünderen Lösungen zu entwickeln.
Als Therapeut*in kann ich zudem Zwickmühlen utilisieren, welche entstehen, wenn ich für die Kassen pathologisierende ICD-10-Diagnosen stellen muss, etwa indem ich meinen Patient*innen meine Zwickmühlen metakommuniziere und wir hilfreiche Metaebenen aufbauen.
Gunther Schmidt: Vortrag zum 20-jährigen Jubiläums des SySt®-Instituts
Meine professionelle Verantwortung in der Diagnostik
Diagnosen sind weder objektiv klar noch generell stimmig. Es handelt sich bei ihnen um Realitätskonstruktionen, die von Beobachter*innen aus bestimmten Perspektiven verallgemeinernd gemacht werden und die stark selektiv sind.
Denken wir hierbei an den Satz von Humberto Maturana: "Alles, was gesagt wird, wird von einem Beobachter gesagt".
Auf diese Weise wird z.B. verstehbar, warum die Homosexualität von einer homophoben Warte aus bis 1991 als eine psychische Störung gewertet wurde und trans*Identitäten aufgrund der trans*Negativität der Beobachter*innen noch immer pathologisiert werden.
Diagnosen sagen alles über das Wertsystem der Krankenkassen und Versicherungen aus, aber so gut wie nichts über unsere einzigartigen Klient*innen. Niemand hat z.B. Borderline oder ist Borderline, er zeigt nur in einem gewissen Kontext dementsprechende Interaktionsmuster, die verdinglichend als "Borderline" bezeichnet werden.
Ich erörtere meinen Klient*innen und Patient*innen genau, welche negativen Auswirkungen manche Diagnosen haben können. Genau darin sehe ich meine berufsethische Verantwortung, Expertise und Professionalität. Wenn etwa jemand eine Lebensversicherung abschließen möchte, dann warne ich vor bestimmten Diagnosen und wir wählen dialogisch eine möglichst schonende Diagnose aus. Das bringt meine Klient*innen in die Selbstwirksamkeit und Kompetenz und bewahrt ihre Würde.
Vor dem Hintergrund, dass Diagnosen lediglich Realitätskonstruktionen darstellen, die niemals abbilden, wie es wirklich ist und die immer auf ihre Zieldienlichkeit geprüft werden müssen, erachte ich diese meine Haltung als äußert bedeutsam.
Fazit:
Auch Menschen mit schweren Symptomen und sehr pathologisierenden Diagnosen verfügen immer über hilfreiche und lösungsfördernde Kompetenzen und Ressourcen in ihrem unbewussten Erlebensrepertoire. Spätestens nach ein paar wenigen Sitzungen können mit hypnosystemischen Ansätzen alle diese Kompetenzen reaktiviert werden.
Damit ist es essenziell wichtig, die Aufmerksamkeit permanent auf die Ressourcen auszurichten. Diese Notwendigkeit ist durch die moderne Priming-Forschung und Hirnforschung wissenschaftlich belegt.
Die bisherige Praxis der Diagnostik nach ICD- und DSM-Beschreibungen bewirkt schnell das Gegenteil, nämlich eine schwächende (indirekte und intransparente) Hypnose, die mit einer Amnesie und Dissoziation für hilfreiche Kompetenzen einhergeht.
Zusätzlich zu den pathologisierenden Diagnosen, welche wir für die Kassen benötigen, können wir mit unseren Klient*innen immer auch Ressourcen-Diagnosen entwickeln, in denen wir ihre Stärken, Kompetenzen und Fähigkeiten hervorheben. Dies kann die Selbstwirksamkeit unserer Klient*innen stark fördern.
Kommen unsere Klient*innen mit Selbstdiagnosen und Selbstpathologisierungen zu uns, so können wir dies wieder als Lösungsversuche für anerkennenswerte Bedürfnisse utilisieren.
Exkurs: Was ist hypnosystemische Therapie und Beratung?
Der hypnosystemische Ansatz wurde vom Arzt, Psychotherapeuten und Betriebswirt Gunther Schmidt entwickelt, der die moderne Hypnotherapie von Milton Erickson mit lösungsorientierten systemischen Therapieansätzen kombinierte. Die Hypnosystemik ist einer der wirksamsten und effektivsten Ansätze in der modernen Therapie und Beratung und aktiviert schnell die Selbstheilungskräfte der Klient*innen. Durch diese Kompetenzaktivierung kommt es in der Regel sowohl bei chronischen körperlichen Leiden als auch bei psychischen Belastungen innerhalb kurzer Zeit zu einer Verbesserung.
In der hypnosystemischen Therapie befinden sich die Klient*innen meist im Wachbewusstsein und können auf diese Weise rasch gesundheitsförderliche Kompetenznetzwerke aktivieren. Die Haltung der Hypnosystemik ist immer, dass die Klient*innen selbst über alle Fähigkeiten und Kompetenzen verfügen, um ihr eigenes Erleben zu verbessern.
Dieser Text ist inspiriert von den vielen Vorträgen zum Thema Diagnostik, die ich von Gunther Schmidt gehört habe.



