Orientierung und Reorientierung in der Traumatherapie

Florian Friedrich • 20. November 2025

Traumatisierte Menschen können sich nicht gut orientieren

Leiden wir unter Traumafolgesymptomen, so verfallen wir oft in Starre oder in die totale Übererregung, die eine gute Orientierung verhindern. Viele Betroffene sind auch hochsensitiv und hypersensibel. Ein mangelnder Filter von Reizen führt dann immer wieder zu Hochstress, Überaktivierung und Erstarrung.

Wir können nur lernen und neue korrigierende Erfahrungen verkörpern, wenn wir gut orientiert sind und uns sicher fühlen.

Orientierung und Reorientierung in der Traumatherapie

Traumatisierte Menschen sind desorientiert in Raum und Zeit

Orientierung ist DER wesentliche Baustein der modernen Traumatherapie, da traumatisierte Menschen im Raum und in der Zeit desorientiert sind. Diese Orientierungslosigkeit macht wiederum Angst und Unsicherheit - ein Teufelskreis. Auch der Verlust der Zeit und Zukunftslosigkeit sind typische Merkmale, denn jedes Trauma ist zeitlos.


Was sind spezifische Symptome der Desorientierung?

  • Die Aufmerksamkeit ist beeinträchtigt.
  • Das Aussondern von Informationen fällt bei Dysregulierung schwer.
  • Die Orientierung hinsichtlich eigener Bedürfnisse ist schlecht ausgeprägt sowie die Orientierung was Emotionen betrifft: So kommt es zu emotionalen Flashbacks, die den Alltag und die zwischenmenschlichen Beziehungen von traumatisierten Personen immens belasten.


Beispiel: Viele Menschen sind in Partnerschaften sehr leicht gekränkt, leiden unter irren Verlustängsten und unter unbegründeter Eifersucht. Hierbei handelt es sich um emotionale Flashbacks, deren Ursachen in der Biographie liegen. Ein Großteil der Menschen verhält sich desorientiert, d.h. ihnen ist gar nicht bewusst, dass diese Emotionen heute nur getriggert werden. Anstatt sich im Jetzt zu orientieren, sich selbst zu regulieren und gesunde Bindungsmuster zu lernen, machen sie nun ihren Partner für ihre Trigger und Emotionen verantwortlich.


Warum ist Orientierung so wichtig?

Orientierung zeigt uns neue Perspektiven, Möglichkeiten und Wege auf und befähigt uns, zwischen bewussten Entscheidungen zu wählen. Unsere Welt wird dann bunter, vielfältiger und freier. Eine Weltsicht die vom Ganz-oder-gar-nicht bestimmt ist, wird zum Sowohl-als-auch.

Film: "Der Zusammenhang zwischen Trauma und Depression und warum viele Therapien nicht richtig wirken."

Wir können bewusst mit dem Orientierungsreflex arbeiten

Traumatisierte Menschen machen oft nur ängstliche und kleine Augenbewegungen und suchen einen Fluchtweg. Dies ist keine vollständige Orientierung bzw. Reorientierung, sondern lediglich ein (oft ganz unbewusster und habituierter) Orientierungsreflex, der uns immobilisiert und auf den Reiz eintunneln lässt.


Der Orientierungsreflex ist an und für sich evolutionsbiologisch sinnvoll, und ohne ihn hätte die Spezies Mensch nicht überlebt. Er aktiviert uns und stellt uns viel Energie zur Verfügung.

Den Reflex können wir in der Traumatherapie konstruktiv nutzen, indem wir unsere Patient*innen ermuntern, sich mit einer Bewegung und Drehung des ganzen Oberkörpers und des Halses im Raum zu orientieren. Dabei sollte man den Körper strecken, sich mit einer deutlichen Bewegung zum Raum hinwenden und diesen genau beobachten. Dies aktiviert den Parasympathikus, und wir lernen bei jeder bewussten Reorientierung, die den Körper miteinbezieht, uns auf neue Reize und Erfahrungen einzustellen, ohne die Orientierung zu verlieren. Um Reize genau zu beobachten und einzuordnen, kann ein lauter oder leiser innerer Monolog hilfreich sein.

Die gefühlte Sicherheit sollten wir dann bewusst in uns hineinnehmen und uns körperlich damit anfüllen. Als Psychotherapeut*innen sind wir deshalb an dieser Stelle gefordert, genau anzufragen, wie es sich körperlich anfühlt, sich sicher zu fühlen.

Der Orientierungsreflex soll also zu einem Bottom-Up-Prozess werden. Dies erfordert viel Übung und Zeit.

Wir sollten also Trigger und Problemmuster nicht vermeiden, sondern vielmehr umdeuten und als einen Aufruf reframen, besonders gut und freundlich mit uns selbst umzugehen.


Die meisten Menschen explorieren zu wenig

Wir sind als Therapeut*innen angehalten, das explorative Verhalten unserer Klient*innen zu fördern, da viele Menschen in unserer Kultur diesbezüglich sehr gehemmt sind. Erich Fromm hat dies als die Freiheit ZU beschreiben, die viele Menschen in unserer Konsumkultur überfordert, weil wir jeden Tag mit Ersatzbefriedigungen für primäre Bedürfnisse verführt werden, die uns zerstreuen, ablenken und von uns selbst entfremden.

Begehren, Interesse an der Welt sowie an unseren Mitmenschen, Sinnlichkeit, Achtsamkeit und Hingabe an etwas stellen die echte Freiheit dar und haben nichts mit Hergabe, sich-Verschleißen und Aufopferung zu tun.


Orientierung meint, dass ich aktiv in die Welt hinausblicke und mich ihr zuwende. Jedoch machen uns Übertragungen, Projektionen und sich selbst erfüllende Prophezeiungen eng. Wenn ich gelernt habe, dass immer etwas Schlimmes passieren wird und ich mich nie fallen lassen sollte ("Freu Dich nicht zu früh!"), werde ich stets dementsprechende bestätigende Reize suchen. Ganz anders verhält es sich bei jenen glücklichen Mitmenschen, die nach dem Prinzip des "Freu Dich nicht zu spät!" leben.

Um maligne implizite Glaubenssätze und Schemata zu überprüfen und zu korrigieren, müssen wir sie uns und unseren Patient*innen erst einmal bewusst machen. Erst dann können wir sie auf der Metaebene achtsam beobachten, neu verorten, würdigen und hinterfragen.


Dafür können mir folgende Fragen hilfreich sein:

  • Wozu waren meine schwierigen Glaubenssätze früher einmal gut und notwendig?
  • Wie würde ein anderer Mensch auf dieselbe Situation sehen?
  • Könnten wir eine schwierige Situation auch anders sehen und interpretieren?
  • Ist es wirklich so?

Zudem kann es hilfreich sein, aus einer Vogelperspektive auf schwierige Situation zu blicken.

Ich kann immer wieder trainieren, mich innerlich zu beobachten, in welchem State ich gerade bin und wie ich dann meine Welt wahrnehme und erlebe. Auch Verhaltensexperimente und ein spielerisches Ausprobieren von neuen körperlichen Haltungen und anderen Bewegungsmuster können diesbezüglich hilfreich sein.


Beispiel: Ich fahre zu meiner Gesangslehrerin und ärgere mich über einen Autofahrer, der mich sehr knapp im Straßenverkehr schneidet, sodass ich eine Vollbremsung einlegen muss. Ich komme in einen mürrischen, wütenden State und beobachte mein altes Glaubensmuster: "Die Welt ist ein gefährlicher Ort".

Im Gesangsunterricht erlebe ich dann durch meine Atmung und das Singen ein tiefes psychophysiologisches Wohlbefinden. Ich verlasse meine Gesangsstunde mit einem geerdeten, freundlichen, positiven, farbigen und zufriedenen Blick auf die Welt und befinde mich in einem gänzlich anderen Zustand.


Da sich unsere Zustände und damit verbundene Schemata und States so rasch ändern, ist es wichtig, dass wir unsere Klienten (und uns selbst) stets aufs Neue ermuntern, sich selbst und unsere Umwelt genau zu beobachten, hinzublicken, sich gut zu orientieren und anders zu bewerten. Denn je mehr Informationen wir durch dieses Orientieren einsammeln, desto stärker wird unser Neokortex aktiviert.

Film: "Wie ein Trauma entsteht und wie du es verarbeiten kannst"

Ganz praktische Orientierungsübungen für meine Patientinnen (und auch für mich selbst) sind:

  • Zehn mal am Tag zu üben, sich zu orientieren und zu beobachten, wo ich gerade bin und ob ich im Hier und Jetzt sicher bin
  • Fünf grüne (oder andersfarbige) Dinge in meiner Umgebung zu suchen
  • Fünf Geräuschen zu lauschen
  • Fünf verschiedene Stoffe und Materialien zu ertasten
  • Mich zu fragen, wo ich gerade bin und wie alt in Jahren, Monaten, Tagen, Stunden und Sekunden ich bin

Viele weitere gute Anregungen finden sich auf der Website: ORIENTIERUNG UND GROUNDING


Ich erachte es als wichtig, dass wir unsere Patient*innen im Sinne der Psychoedukation gut weiterbilden, wie wichtig Orientierung ist, und dass es ein typisches Traumfolgesymptom ist, in Raum und Zeit desorientiert zu sein.

Aus diesem Grund sind Regression und die Arbeit an Traumaerinnerungen nicht sinnvoll. Viel heilsamer ist es, ganz im Hier und Jetzt verortet zu sein, körperliche Sensationen zu beobachten und zugleich sich sicher und mit sich selbst verbunden zu fühlen. In anamnestischen Gesprächen, in denen die traumatische Biografie der Klientin im Vordergrund steht, sollten wir immer auch zu innerer Sicherheit und zur Orientierung im Jetzt pendeln. Mein Patient kann dann die neue Erfahrung machen, dass er über belastende Ereignisse sprechen kann und zugleich sicher und in Kontakt mit seinem Gegenüber ist. Er erlebt Verbundenheit und eine gesunde Beziehung.


Zur Orientierung im gegenwärtigen Moment zählt auch, dass ich die Augen offenhalte, nicht auf den Boden blicke oder ins sprichwörtliche Narrenkastl starre, sondern wieder in den gegenwärtigen Moment zurückkomme und zu meinen Mitmenschen Kontakt aufnehme.

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